Warum Lohngerechtigkeit jetzt zum Wettbewerbsfaktor wird
Die neue EU-Richtlinie zur Lohntransparenz verpflichtet Unternehmen zu mehr Offenheit – und könnte einen tiefgreifenden Kulturwandel in der Arbeitswelt auslösen.
Die neue EU-Richtlinie zur Lohntransparenz verpflichtet Unternehmen zu mehr Offenheit – und könnte einen tiefgreifenden Kulturwandel in der Arbeitswelt auslösen.
Im März 2023 verabschiedete das Europäische Parlament ein Gesetz, das leise daherkommt – und doch eines der potenziell tiefgreifendsten arbeitsrechtlichen Reformvorhaben der jüngeren EU-Geschichte ist. Die Richtlinie zur Lohntransparenz, die im Juni desselben Jahres in Kraft trat, zielt nicht auf Schlagzeilen. Sie verspricht keine radikale Neuordnung ökonomischer Modelle und keinen sofortigen Umbruch. Stattdessen verlangt sie etwas scheinbar Banales: dass Arbeitgeber ehrlich über Bezahlung Auskunft geben.
Ziel der Richtlinie ist es vor allem, die geschlechterspezifische Lohnlücke zu schließen – ein Problem, das trotz fünf Jahrzehnten gesetzlich verankerter Gleichbezahlung hartnäckig besteht. Im Jahr 2021 verdienten Frauen in der EU im Schnitt 12,7 % weniger pro Stunde als Männer – ein Wert, der sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert hat. Und die Ungleichheit ist nicht gleichmäßig verteilt: Während Luxemburg, Rumänien, Slowenien, Polen, Belgien und Italien 2023 Lohnunterschiede von unter 5 % meldeten, lagen sie in Ungarn, Deutschland, Österreich und Estland bei über 17 %. Diese Spannbreite zeigt, wie komplex das Problem ist – und wie schwer es fällt, eine einheitliche Lösung zu finden.
Dass die Lohnlücke weiterhin besteht, liegt an einem ganzen Geflecht struktureller Faktoren. Besonders stark wirkt die sogenannte sektorale Segregation: Frauen sind überdurchschnittlich häufig in schlechter bezahlten Bereichen wie Pflege, Gesundheit und Bildung tätig. Auch die ungleiche Verteilung bezahlter und unbezahlter Arbeit verstärkt die Kluft – denn oft tragen Frauen einen Großteil der Sorgearbeit, was sich unmittelbar auf Karrierechancen und die Möglichkeit auswirkt, in Vollzeit zu arbeiten. Die „gläserne Decke“, die Frauen den Zugang zu Führungspositionen und besser vergüteten Rollen erschwert, ist nach wie vor real. Und trotz gesetzlicher Verbote kommt es immer noch zu direkter Lohndiskriminierung: Frauen verdienen mitunter weniger für dieselbe oder gleichwertige Arbeit.
Die Haltung der EU ist eindeutig: Intransparenz bei Gehältern zementiert Ungleichheit. Wenn Transparenz ernsthaft umgesetzt wird, kann sie genau das aufbrechen.
Doch was diese Richtlinie tatsächlich in Gang setzt, reicht weit über Fragen der Geschlechtergerechtigkeit hinaus. Sie hat das Potenzial, die Art und Weise, wie Organisationen in EMEA über Wertschöpfung, Fairness und Verantwortung denken, grundlegend zu verändern. Unternehmen stehen vor der Herausforderung, zwei scheinbar widersprüchliche Prinzipien miteinander zu versöhnen: das legitime Interesse, Leistung wettbewerbsfähig zu entlohnen – und die Verpflichtung, vergleichbare Arbeit auch vergleichbar zu bezahlen.
Transparenz wird nicht nur verordnet, sondern auch als individuelles Recht gestärkt.
Genau darin liegt die Kraft dieser Richtlinie: Sie könnte zum Ausgangspunkt eines tiefgreifenden Kulturwandels in der Arbeitswelt werden.
Die Vorgaben der Richtlinie gehen weit über symbolische Gesten hinaus. Arbeitgeber sind künftig verpflichtet, bereits in Stellenanzeigen oder spätestens vor dem Bewerbungsgespräch Gehaltsspannen offenzulegen – basierend auf objektiven, geschlechtsneutralen Kriterien. Fragen nach dem bisherigen Gehalt sind tabu. So soll verhindert werden, dass frühere Diskriminierungen fortgeschrieben werden. Ein zentrales Element: Beschäftigte erhalten das ausdrückliche Recht, über ihr Gehalt zu sprechen. Ein unscheinbarer, aber bedeutsamer Paradigmenwechsel – Transparenz wird nicht nur verordnet, sondern auch als individuelles Recht gestärkt.
Unabhängig von der Unternehmensgröße dürfen alle Beschäftigten schriftlich Auskunft über ihr eigenes Gehalt sowie über das Durchschnittsgehalt vergleichbarer Kolleg:innen verlangen. Arbeitgeber müssen innerhalb von zwei Monaten antworten – und ihre Mitarbeitenden jährlich über dieses Recht informieren.
Die Berichtspflicht orientiert sich an der Unternehmensgröße: Ab 2027 müssen Firmen mit mindestens 250 Beschäftigten jährlich ihre geschlechtsspezifische Lohnlücke offenlegen. Unternehmen mit 150 bis 249 Beschäftigten sind alle drei Jahre zur Berichterstattung verpflichtet. Organisationen mit 100 bis 149 Mitarbeitenden folgen ab 2031.
Gehalt ist mehr als eine Zahl. Es ist ein Ausdruck von Bewertung
Wird eine Lohnlücke von 5 % oder mehr festgestellt, die sich nicht durch objektive, geschlechtsneutrale Kriterien erklären lässt – und innerhalb von sechs Monaten keine Maßnahmen ergriffen werden –, ist eine gemeinsame Lohnbewertung verpflichtend. Diese erfolgt zusammen mit Arbeitnehmervertretungen und muss in einem dokumentierten Maßnahmenplan münden.
Besonders relevant: Es gibt keine Obergrenze für Entschädigungszahlungen. Arbeitgeber haften nicht nur für Nachzahlungen, sondern auch für entgangene Chancen und immaterielle Schäden. Damit wird die Richtlinie zu mehr als einem rechtlichen Risiko – sie ist auch ein potenzielles Reputations- und Geschäftsrisiko
Auf den ersten Blick wirkt die Richtlinie wie eine klassische Checkliste: Gehälter prüfen, Bericht veröffentlichen, bei Bedarf nachjustieren. Doch hinter dieser Fassade steckt eine tiefere Erzählung – über die Frage, wie in modernen Organisationen Wert entsteht und wie er verteilt wird.
Denn Gehalt ist mehr als eine Zahl. Es ist ein Ausdruck von Bewertung. Es spiegelt Machtverhältnisse. Es signalisiert, wie viel jemandes Arbeit – und letztlich jemand selbst – wert ist.
Lange Zeit haben Unternehmen interne Gehaltsunterschiede mit Verweis auf Verhandlungsgeschick, individuelle Leistung oder historische Gehaltsverläufe begründet. Auch wenn diese Erklärungen oft in guter Absicht erfolgen, sind sie anfällig für unbewusste Vorurteile. Solange Vergütung im Verborgenen bleibt, lassen sich solche Verzerrungen nur schwer aufdecken. Wird sie hingegen transparent, wird es deutlich schwieriger, sie zu rechtfertigen.
Genau hier setzt die EU-Richtlinie an: Sie verlagert die Beweislast.
Wenn eine Frau und ein Mann dieselbe Arbeit verrichten, aber unterschiedlich bezahlt werden, liegt es nun am Arbeitgeber, den Unterschied zu erklären – nicht mehr an der betroffenen Person.
Und genau dieser scheinbar kleine Perspektivwechsel könnte sich als das wirkungsvollste Instrument der ganzen Richtlinie erweisen.
Transparenz kann – das wird jede Führungskraft bestätigen – irritieren, verunsichern, Unruhe stiften. Aber sie kann ebenso klärend wirken. Sie zwingt Organisationen nicht nur dazu, Ungleichheiten zu beheben, sondern sie auch zu erklären. Und sie gibt Mitarbeitenden neue Werkzeuge an die Hand, um lange unhinterfragte Normen zu hinterfragen.
Für Unternehmen bedeutet das: Sie brauchen eine erzählerische Konsistenz, die viele HR-Systeme bisher nicht leisten können. Gehaltsbänder müssen über Geschäftsbereiche hinweg schlüssig gestaltet werden. Alte Ungleichgewichte – entstanden durch Übernahmen oder bloßes Weiter-so – lassen sich nicht länger ignorieren. Führungskräfte werden sich schwierigen Fragen stellen müssen – nach innen wie nach außen.
Transparenz und Fairness sind nicht nur moralisch geboten – sie werden zum echten Wettbewerbsvorteil.
Doch dieser Wandel trifft auf ein verändertes Mindset in der Arbeitswelt – und darin liegt eine Chance.
In vielen Teilen Europas stellen Millennials und die Gen Z inzwischen die Mehrheit der Erwerbstätigen. Für sie zählen Transparenz, Fairness und gesellschaftliche Verantwortung zu den zentralen Kriterien bei der Wahl ihres Arbeitgebers. Die Richtlinie trifft exakt diesen Nerv – sie ist nicht nur politischer Wille, sondern Ausdruck eines Wertewandels.
Die Unternehmen, die unter dieser Richtlinie florieren, werden jene sein, die Transparenz nicht als Kontrollverlust begreifen, sondern als Grundlage für Vertrauen.
Die EMEA-Region zeigt ein differenziertes Bild, was die Vorbereitung auf die Richtlinie betrifft. Innerhalb der EU gibt es einige Länder, die bereits deutlich weiter sind. Island etwa hat schon heute Gesetze in Kraft, die Elemente der Lohntransparenz integrieren. Auch Frankreich, Deutschland und Schweden agieren proaktiv. Doch das Tempo ist nicht einheitlich. Polens anfängliche Ablehnung von Transparenzreformen etwa deutet auf mögliche Widerstände oder Verzögerungen in Teilen Mittel- und Osteuropas hin. Gleichzeitig zeigen unternehmensinterne Berichte – wie der von Omnicom Media Group Europe aus dem Jahr 2024 – bereits, wie detailliert Lohnanalysen künftig aussehen könnten.
Kulturelle Unterschiede erschweren die Umsetzung zusätzlich. Der Umgang mit Gehältern ist von Land zu Land unterschiedlich geprägt: In manchen Kulturen gilt über Geld zu reden als Tabu, in anderen ist Offenheit selbstverständlich. Unternehmen müssen diese Feinheiten verstehen – und ihre Kommunikationsstrategien entsprechend lokal anpassen. Eine pauschale Lösung wird nicht funktionieren.
Gerade für multinationale Konzerne bedeutet das: Ihre Compliance-Strategien müssen sowohl zentral gesteuert als auch lokal differenziert sein. Und besonders in Teilen Mittel- und Osteuropas oder auch in Regionen des Nahen Ostens und Afrikas können kulturelle Barrieren den internen Dialog erschweren.
Aber diese Komplexität ist kein Grund für Stillstand. Sie ist vielmehr ein Weckruf – und der ideale Zeitpunkt für strategische Weichenstellungen.
Die Einhaltung der Richtlinie ist Pflicht – nicht Kür. Was künftig über Wettbewerbsfähigkeit entscheidet, ist nicht die Erfüllung der Mindestanforderungen, sondern der Wille, über sie hinauszugehen.
Die besten Unternehmen werden:
regelmäßige, fundierte Gehaltsanalysen durchführen und nicht erst dann handeln, wenn sie dazu verpflichtet sind
objektive, geschlechtsneutrale Bewertungsrahmen für Rollen und Funktionen etablieren
ihre Vergütungsstrategie offen und proaktiv kommunizieren – intern wie extern
Lohngerechtigkeit als integralen Bestandteil ihrer DEI- und ESG-Strategien begreifen, einschließlich der Offenlegungspflichten nach der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD)
Systeme aufbauen, die nicht nur Lücken messen, sondern deren Ursachen nachvollziehen und gezielt adressieren
Der Fokus der EU auf Fairness am Arbeitsplatz ist Teil eines umfassenderen, integrierten Rahmens. Die Richtlinie ergänzt bestehende Antidiskriminierungsgesetze, die Benachteiligung aufgrund von Geschlecht, Herkunft, Religion, Behinderung, sexueller Orientierung oder Alter untersagen. Sie baut zudem auf DEI-Initiativen auf, die bereits für manche Unternehmen Berichtspflichten zu Vielfalt, Weiterbildung und Mitarbeitendenbindung vorsehen. In einigen Ländern drohen bei Verstößen spürbare Sanktionen – ein klares Signal: Das Thema ist längst kein reines HR-Thema mehr, sondern eine strategische Aufgabe.
Die Richtlinie ist kein Endpunkt. Sie ist ein Auslöser. Wer ihr Potenzial erkennt, wird nicht nur gesetzeskonform handeln – sondern sich strategisch besser aufstellen.
Denn in einer Ära der Transparenz ist Fairness nicht nur moralisch geboten – sie wird zum echten Wettbewerbsvorteil.
Bereit, Lohntransparenz strategisch anzugehen? Ob erste Schritte oder tiefgreifende Transformation – wir unterstützen Sie dabei, Ihre HR- und Vergütungsstrategie zukunftsfest aufzustellen. Kontaktieren Sie unser Sales-Team und erfahren Sie, wie Workday Sie bei der Umsetzung der EU-Richtlinie zur Lohntransparenz unterstützen kann.
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