Warum Arbeitgeber ein ganzes Segment hochqualifizierter Talente übersehen

Der Fachkräftemangel gilt als unausweichlich. Doch was, wenn das Problem nicht der Mangel an Talenten ist, sondern die Art, wie Unternehmen sie suchen? Dieser Artikel zeigt, warum Wiedereinsteigerinnen – erfahren, belastbar und hochqualifiziert – ein Schlüssel zur Lösung sein könnten.

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In den Vorstandsetagen der DACH-Region wiederholt sich seit Jahren derselbe Satz: Es gibt einfach nicht genug Talente. Demografischer Wandel, digitale Transformation, neue Erwartungen der Beschäftigten – die Liste der Erklärungen ist lang. Ganz falsch ist das nicht. Aber sie lenkt vom eigentlichen Problem ab.

Ein hochqualifiziertes, engagiertes und erfahrenes Segment der Arbeitskräfte bleibt weitgehend unsichtbar: Frauen, die nach einer Karrierepause zurückkehren. Diese Rückkehrerinnen sind Ingenieurinnen, Projektmanagerinnen, Analystinnen, IT-Spezialistinnen. Viele sprechen mehrere Sprachen, haben in komplexen Umfeldern gearbeitet, Krisen gemeistert, Verantwortung getragen. Und doch scheitern sie häufig schon, bevor sie überhaupt die Chance auf ein Gespräch bekommen.

Das Problem ist also nicht der Mangel an Talenten, sondern die Unfähigkeit, sie zu sehen.

Eine übersehene Workforce

Nehmen wir Daniela Gulie. Zwölf Jahre lang arbeitete sie bei Hewlett Packard in Bukarest in einem schnelllebigen IT-Umfeld, das sie wegen seiner Dynamik und ständigen Lernmöglichkeiten liebte. 2019 zog sie mit ihrer Familie nach Deutschland und legte ihre Karriere auf Eis, um ihren Kindern den Start in eine neue Sprache und Kultur zu erleichtern.

Sechs Jahre später, mit einer Salesforce-Zertifizierung in der Tasche und fließenden Englisch-, Französisch- und soliden Deutschkenntnissen, begann sie, sich wieder zu bewerben. Sie wusste, dass der Wiedereinstieg kein Selbstläufer sein würde,  aber sie hatte nicht mit Schweigen gerechnet. Eine Bewerbung nach der anderen verpuffte. „Das Schwierigste“, sagt sie, „ist, dass ich gar nicht erst zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werde. Arbeitgeber sehen die Lücke im Lebenslauf – und lehnen ab.“

Wir müssen die Belegschaft selbst aufbauen, die wir brauchen.

 

Vanessa Gentile Gründerin Bring Women Back To Work

Danielas Geschichte ist kein Einzelfall.

In der Schweiz baute Tania Virtel, Informationssystemingenieurin mit einem Master in internationalem Projektmanagement, ihre Karriere über drei Länder hinweg auf: Mexiko, Frankreich und schließlich die Schweiz. Zuletzt war sie SAP Master Data Managerin bei der Swatch Group. Sie sprach fließend Französisch, Englisch und Spanisch, leitete internationale Teams, führte komplexe ERP-Implementierungen durch. Dann zwang sie eine schwere Erkrankung zu einer dreijährigen Pause.

Als sie wieder gesund war, glaubte sie, ihre 17 Jahre Berufserfahrung würden für sich sprechen. „Ich bin immer noch dieselbe“, sagt sie. „Ich habe mich nicht verändert. Ich bin bereit, mich einzubringen, zu lernen, mich weiterzuentwickeln. Ich brauche nur diese erste Chance.“

Wie Daniela erlebte auch Tania, dass ihre Bewerbungen unbeantwortet blieben. Der Unterschied, sagt sie, liege nicht in den Fähigkeiten, sondern in der Wahrnehmung. „Manchmal wirft das Leben einen aus der Bahn“, sagt sie. „Wenn Unternehmen Programme für Wiedereinsteigerinnen schaffen würden, könnte das enorm viel bewirken – selbst Teilzeit- oder befristete Stellen könnten eine Brücke zurück ins Berufsleben sein.“

Beide Frauen stehen für eine weit größere Gruppe qualifizierter Fachkräfte. Laut Vanessa Gentile, Leiterin des Programms Bring Women Back to Work (BWBW), verfügen 64 Prozent der Teilnehmerinnen über einen Masterabschluss, rund 30 Prozent über einen Bachelor. Es geht hier nicht um Ungelernte, sondern um erfahrene Spezialistinnen, Managerinnen, Technologinnen. Doch klassische Bewerbungsverfahren lassen ihnen kaum die Chance, das zu zeigen.

Das eigentliche Hindernis: Unsichtbare Vorurteile und starre Systeme

Die Barrieren, auf die Wiedereinsteigerinnen stoßen, sind selten offen ausgesprochen. Kaum eine Stellenausschreibung enthält den Satz: „Keine Karriereunterbrechungen erlaubt.“ Die Ausgrenzung geschieht leiser, eingebettet in Routinen, Algorithmen und unausgesprochene Annahmen.

Recruiter durchforsten Lebensläufe nach lückenlosen Karrieren und werten jüngste Erfahrungen als zuverlässigsten Beleg für künftige Leistung. Bewerbermanagementsysteme markieren Pausen als Risiko. Führungskräfte fürchten lange Einarbeitungszeiten. Und tief verankerte Narrative tun ihr Übriges: Ein Sabbatical zum Reisen gilt als Horizonterweiterung, Jahre, die mit Pflege oder Familienarbeit verbracht wurden, dagegen als Karriereknick.

„Nach Jahren der Kindererziehung kann ich Friedensverträge aushandeln, bevor der Kaffee kalt wird.“

Daniela Gulie

Gentile sieht darin vor allem ein Haltungsproblem. Führungskräfte, die über Fachkräftemangel klagen, verharren zu oft in Passivität, statt Verantwortung für den Aufbau ihrer zukünftigen Workforce zu übernehmen. „Wir müssen die Belegschaft selbst aufbauen, die wir brauchen“, sagt sie. Und das beginnt mit einer ehrlichen Prüfung der Einstellungsprozesse – jener Mechanismen, die Rückkehrerinnen bislang systematisch ausschließen.

Die verborgenen Stärken von Wiedereinsteigerinnen: Was Lebensläufe verschweigen

Ein Lebenslauf erzählt, was war, nicht, was jemand kann. Er zeigt Stationen, aber keine der Fähigkeiten, die über künftigen Erfolg entscheiden. Genau diese Kompetenzen: Belastbarkeit, Anpassungsfähigkeit, Verhandlungsgeschick, Krisenmanagement, verfeinern viele während einer Karrierepause.

Daniela sagt mit einem Lächeln, sie könne nach Jahren der Kindererziehung „Friedensverträge aushandeln, bevor der Kaffee kalt wird“. Hinter dem Witz steckt Wahrheit: Eltern moderieren Konflikte, reagieren in Stresssituationen besonnen und halten komplexe Abläufe unter Druck am Laufen. Das sind keine „Soft Skills“, das ist Organisationsstärke in Reinform.

Selbstvertrauen ist ein weiterer entscheidender Faktor. Viele Wiedereinsteigerinnen starten ihre Jobsuche nach Jahren der Pause mit angeknackstem Selbstwertgefühl. Bring Women Back to Work investiert gezielt in den Wiederaufbau dieses Vertrauens. Durch Mentoring, gemeinschaftliche Unterstützung und gezielte Trainings. „Der entscheidende Hebel ist, die Denkweise zu verändern“, sagt Gentile. Sobald Rückkehrerinnen ihr berufliches Selbstvertrauen zurückgewinnen, verändert sich auch das Ergebnis ihrer Suche, spürbar und schnell.

Für Tania war dieses Vertrauen ein Prozess der Wiederentdeckung. Nach mehreren Operationen und einer langen Genesungsphase beschreibt sie, wie sie lernte, sich im wörtlichen wie im übertragenen Sinn wieder aufzurichten. Diese Resilienz, sagt sie, prägt heute ihre gesamte Haltung zur Arbeit und könnte jedes Team stärken, das bereit ist, über die Lücke im Lebenslauf hinauszuschauen.

Wie Unternehmen ihre Herangehensweise überdenken können

Die vielbeschworene Talentlücke lässt sich nicht mit Jobbörsen und Wunschdenken schließen. Wer sie wirklich angehen will, muss bereit sein, Einstellungsprozesse und Unternehmenskultur neu zu denken. Vier Veränderungen sind dabei entscheidend:

1. Flexible Einstiegsmodelle schaffen.

Probezeiten, Wiedereinstiegsprogramme oder befristete Verträge können das wahrgenommene Risiko für Arbeitgeber senken – und Rückkehrerinnen zugleich die Chance geben, sich zu beweisen. „Wenn Unternehmen Wiedereinsteigerprogramme schaffen könnten, würde das einen unglaublichen Unterschied machen“, sagt Tania Virtel. „Man kann einen Kompromiss finden, selbst wenn das Teilzeitstellen, befristete Verträge oder Praktika sind.“ Viele, wie Daniela, sehen das genauso: Gebt uns einfach die Möglichkeit, zu zeigen, was wir können.

2. Nach Fähigkeiten statt Chronologie einstellen.

Gentile plädiert dafür, über rückwärtsgewandte Lebensläufe hinauszugehen. Alternative Formate rücken aktuelle Kompetenzen und zukünftiges Potenzial in den Mittelpunkt – Neugier, Anpassungsfähigkeit, Problemlösung. Wenn Unternehmen kompetenzbasiert rekrutieren, rückt die Qualität der Fähigkeiten an die Stelle der bloßen Kontinuität. So treten verborgene Talente zutage – und die Personalsuche wird so agil, wie es moderne Organisationen längst sein müssen.

3. Die Denkweise von Führungskräften verändern.

Führungskräfte setzen den Ton. Solange sie Lücken als Schwäche interpretieren, bleibt Voreingenommenheit bestehen. Wer jedoch Rückkehrerinnen als ganze Menschen sieht – als Fachkräfte, Eltern, Betreuende, mehrsprachige Bürgerinnen –, öffnet neue Zugänge zu Leistung und Potenzial.

4. Vertrauen und Mentoring fördern.

Wiedereinsteigerinnen haben Erfolg, wenn sie auf Struktur statt Skepsis treffen. Mentoring, Peer-Netzwerke und gezielte Lernangebote beschleunigen nicht nur die Einarbeitung, sondern stärken langfristig die Bindung ans Unternehmen.

Nichts davon ist theoretisch. Es passiert bereits – dort, wo Unternehmen beginnen, ihre eigene Sicht auf Talent zu hinterfragen.

Partnerschaften, die wirken: Kleine Veränderungen mit großer strategischer Reichweite

In Deutschland, Österreich und der Schweiz beginnen einige Unternehmen leise, aber entschlossen, die Spielregeln zu verändern. Workday etwa kooperiert mit Bring Women Back to Work, um Rückkehrerinnen durch strukturierte Lern- und Mentoringprogramme zu unterstützen. Die Initiative bietet Zertifizierungen, praxisnahe Trainings und Community-Netzwerke, die Frauen den selbstbewussten Wiedereinstieg in IT-Rollen ermöglichen.

Doch die Wirkung reicht weit über das Schließen offener Positionen hinaus. Diese Partnerschaft steht für einen kulturellen Wandel: Talentstrategie bedeutet nicht länger nur, um knappe Ressourcen zu konkurrieren, sondern den Blick dafür zu öffnen, wo Talent überall entstehen kann.

Die Debatte über den Fachkräftemangel ist in den Wirtschaftskreisen der DACH-Region allgegenwärtig. Doch die Daten zeichnen ein anderes, differenzierteres Bild. Es mangelt nicht an Fachkräften – sie werden nur zu oft durch veraltete Einstellungsverfahren und zu enge Vorstellungen von „Erfahrung“ unsichtbar gemacht.

Wiedereinsteigerinnen bilden ein strategisch wichtiges Segment der Workforce – mit genau den Fähigkeiten, die Unternehmen heute brauchen: Belastbarkeit in Zeiten des Wandels, Anpassungsfähigkeit an neue Technologien und den Willen, wirklich etwas beizutragen.

Die Schließung der Talentlücke beginnt mit einem Perspektivwechsel. Wenn Unternehmen aufhören zu filtern und anfangen gezielt zu fördern, lösen sie nicht nur ein Rekrutierungsproblem. Sie erschließen eine Quelle von Potenzial, die Innovation und Wachstum antreibt.

Die Frage ist also nicht, ob diese Talente existieren. Sondern ob Arbeitgeber bereit sind, sie zu sehen.

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