Gentile sieht darin vor allem ein Haltungsproblem. Führungskräfte, die über Fachkräftemangel klagen, verharren zu oft in Passivität, statt Verantwortung für den Aufbau ihrer zukünftigen Workforce zu übernehmen. „Wir müssen die Belegschaft selbst aufbauen, die wir brauchen“, sagt sie. Und das beginnt mit einer ehrlichen Prüfung der Einstellungsprozesse – jener Mechanismen, die Rückkehrerinnen bislang systematisch ausschließen.
Die verborgenen Stärken von Wiedereinsteigerinnen: Was Lebensläufe verschweigen
Ein Lebenslauf erzählt, was war, nicht, was jemand kann. Er zeigt Stationen, aber keine der Fähigkeiten, die über künftigen Erfolg entscheiden. Genau diese Kompetenzen: Belastbarkeit, Anpassungsfähigkeit, Verhandlungsgeschick, Krisenmanagement, verfeinern viele während einer Karrierepause.
Daniela sagt mit einem Lächeln, sie könne nach Jahren der Kindererziehung „Friedensverträge aushandeln, bevor der Kaffee kalt wird“. Hinter dem Witz steckt Wahrheit: Eltern moderieren Konflikte, reagieren in Stresssituationen besonnen und halten komplexe Abläufe unter Druck am Laufen. Das sind keine „Soft Skills“, das ist Organisationsstärke in Reinform.
Selbstvertrauen ist ein weiterer entscheidender Faktor. Viele Wiedereinsteigerinnen starten ihre Jobsuche nach Jahren der Pause mit angeknackstem Selbstwertgefühl. Bring Women Back to Work investiert gezielt in den Wiederaufbau dieses Vertrauens. Durch Mentoring, gemeinschaftliche Unterstützung und gezielte Trainings. „Der entscheidende Hebel ist, die Denkweise zu verändern“, sagt Gentile. Sobald Rückkehrerinnen ihr berufliches Selbstvertrauen zurückgewinnen, verändert sich auch das Ergebnis ihrer Suche, spürbar und schnell.
Für Tania war dieses Vertrauen ein Prozess der Wiederentdeckung. Nach mehreren Operationen und einer langen Genesungsphase beschreibt sie, wie sie lernte, sich im wörtlichen wie im übertragenen Sinn wieder aufzurichten. Diese Resilienz, sagt sie, prägt heute ihre gesamte Haltung zur Arbeit und könnte jedes Team stärken, das bereit ist, über die Lücke im Lebenslauf hinauszuschauen.
Wie Unternehmen ihre Herangehensweise überdenken können
Die vielbeschworene Talentlücke lässt sich nicht mit Jobbörsen und Wunschdenken schließen. Wer sie wirklich angehen will, muss bereit sein, Einstellungsprozesse und Unternehmenskultur neu zu denken. Vier Veränderungen sind dabei entscheidend:
1. Flexible Einstiegsmodelle schaffen.
Probezeiten, Wiedereinstiegsprogramme oder befristete Verträge können das wahrgenommene Risiko für Arbeitgeber senken – und Rückkehrerinnen zugleich die Chance geben, sich zu beweisen. „Wenn Unternehmen Wiedereinsteigerprogramme schaffen könnten, würde das einen unglaublichen Unterschied machen“, sagt Tania Virtel. „Man kann einen Kompromiss finden, selbst wenn das Teilzeitstellen, befristete Verträge oder Praktika sind.“ Viele, wie Daniela, sehen das genauso: Gebt uns einfach die Möglichkeit, zu zeigen, was wir können.
2. Nach Fähigkeiten statt Chronologie einstellen.
Gentile plädiert dafür, über rückwärtsgewandte Lebensläufe hinauszugehen. Alternative Formate rücken aktuelle Kompetenzen und zukünftiges Potenzial in den Mittelpunkt – Neugier, Anpassungsfähigkeit, Problemlösung. Wenn Unternehmen kompetenzbasiert rekrutieren, rückt die Qualität der Fähigkeiten an die Stelle der bloßen Kontinuität. So treten verborgene Talente zutage – und die Personalsuche wird so agil, wie es moderne Organisationen längst sein müssen.
3. Die Denkweise von Führungskräften verändern.
Führungskräfte setzen den Ton. Solange sie Lücken als Schwäche interpretieren, bleibt Voreingenommenheit bestehen. Wer jedoch Rückkehrerinnen als ganze Menschen sieht – als Fachkräfte, Eltern, Betreuende, mehrsprachige Bürgerinnen –, öffnet neue Zugänge zu Leistung und Potenzial.
4. Vertrauen und Mentoring fördern.
Wiedereinsteigerinnen haben Erfolg, wenn sie auf Struktur statt Skepsis treffen. Mentoring, Peer-Netzwerke und gezielte Lernangebote beschleunigen nicht nur die Einarbeitung, sondern stärken langfristig die Bindung ans Unternehmen.
Nichts davon ist theoretisch. Es passiert bereits – dort, wo Unternehmen beginnen, ihre eigene Sicht auf Talent zu hinterfragen.
Partnerschaften, die wirken: Kleine Veränderungen mit großer strategischer Reichweite
In Deutschland, Österreich und der Schweiz beginnen einige Unternehmen leise, aber entschlossen, die Spielregeln zu verändern. Workday etwa kooperiert mit Bring Women Back to Work, um Rückkehrerinnen durch strukturierte Lern- und Mentoringprogramme zu unterstützen. Die Initiative bietet Zertifizierungen, praxisnahe Trainings und Community-Netzwerke, die Frauen den selbstbewussten Wiedereinstieg in IT-Rollen ermöglichen.
Doch die Wirkung reicht weit über das Schließen offener Positionen hinaus. Diese Partnerschaft steht für einen kulturellen Wandel: Talentstrategie bedeutet nicht länger nur, um knappe Ressourcen zu konkurrieren, sondern den Blick dafür zu öffnen, wo Talent überall entstehen kann.
Die Debatte über den Fachkräftemangel ist in den Wirtschaftskreisen der DACH-Region allgegenwärtig. Doch die Daten zeichnen ein anderes, differenzierteres Bild. Es mangelt nicht an Fachkräften – sie werden nur zu oft durch veraltete Einstellungsverfahren und zu enge Vorstellungen von „Erfahrung“ unsichtbar gemacht.
Wiedereinsteigerinnen bilden ein strategisch wichtiges Segment der Workforce – mit genau den Fähigkeiten, die Unternehmen heute brauchen: Belastbarkeit in Zeiten des Wandels, Anpassungsfähigkeit an neue Technologien und den Willen, wirklich etwas beizutragen.
Die Schließung der Talentlücke beginnt mit einem Perspektivwechsel. Wenn Unternehmen aufhören zu filtern und anfangen gezielt zu fördern, lösen sie nicht nur ein Rekrutierungsproblem. Sie erschließen eine Quelle von Potenzial, die Innovation und Wachstum antreibt.
Die Frage ist also nicht, ob diese Talente existieren. Sondern ob Arbeitgeber bereit sind, sie zu sehen.