Die zweite Welle der Digitalisierung

Welchen Sinn soll Arbeit künftig haben, wenn Technik immer mehr übernimmt? Digitalisierung kann helfen, diesen Sinn klarer zu erkennen und zu vermitteln, und dabei menschliche Skills und Verantwortung neu zu denken.

Bild: Die zweite Welle der Digitalisierung – warum Effizienz allein nicht mehr genügt

Prozesse laufen digital, die ERP-Landschaft ist modernisiert und Dokumente wandern durch elektronische Kanäle statt durch Hauspostfächer. Laut dem Digital Office Index arbeiten heute rund 95 Prozent der Unternehmen mit digitalen Workflows. Viele glauben, damit sei die Digitalisierung bereits „erledigt“. Doch nur weil Abläufe schneller geworden sind, bedeutet das nicht, dass sich die Menschen, für die sie gemacht sind, entlasteter oder gar erfüllter fühlen.

Die erste Digitalisierungswelle war im Kern ein Rationalisierungsprojekt. Sie drückte die Kosten, beschleunigte die Abläufe und schuf die Infrastruktur für das Homeoffice. Was den Arbeitsalltag selbst anging, blieb erstaunlich viel unangetastet. Mit der zweiten Welle ändert sich das. Fortschritt wird nicht mehr an der Prozessgeschwindigkeit gemessen, sondern daran, ob Arbeit wieder Bedeutung gewinnt, ob sie Orientierung bietet, Sinn stiftet, Gestaltungsspielräume eröffnet und Menschen aus der Tretmühle bloßer Routinen herausholt.

Das „Age of Intelligence“ verschiebt die Spielregeln

Die zweite Digitalisierungswelle, die Künstliche Intelligenz, greift tiefer als jede technologische Bewegung zuvor. Sie transformiert die Art und Weise, wie Wissen entsteht und Entscheidungen getroffen werden. Im anbrechenden Age of Intelligence führen Systeme heute nicht mehr nur Aufgaben aus, sondern erkennen Zusammenhänge und formulieren Vorschläge. Damit dringen digitale Werkzeuge in Bereiche vor, die lange als rein menschliche Domäne galten, etwa Analyse, Kreativität, Auswahl und Bewertung. Wer Digitalisierung bisher organisiert hat, erlebt sie nun als Eingriff in den eigenen Arbeitsalltag.

Unternehmen stehen heute vor der Herausforderung, ihre Vorstellungen von guter Arbeit zu konkretisieren. Wer dies nur als Effizienz- und Kontrollprogramm versteht, riskiert Widerstand und Vertrauensverlust. Wer sie hingegen als Chance begreift, Arbeit klarer, sinnvoller und nachvollziehbarer zu gestalten, schafft Orientierung für die Menschen, die diese Veränderung mittragen.

Die stille Engagement-Krise

Die zweite Welle der Digitalisierung trifft auf Beschäftigte, die mehr erwarten als nur funktionierende Abläufe. Sie wünschen sich eine Arbeitswelt, in der Entwicklung sichtbar wird und nicht im Alltag untergeht. Lernen soll ihnen dabei helfen, ihre Fähigkeiten zu erweitern und neue Aufgaben zu übernehmen. Und sie wollen Verantwortung übernehmen, die nachvollziehbar geregelt ist und es ihnen ermöglicht, ihre Stärken einzubringen.

Damit bröckelt die klassische Loyalität zum Unternehmen, denn reine Vergütung, Status und Jobtitel verlieren an Bindungskraft.

Genau aus dieser Verschiebung entsteht die stille Engagement-Krise. Dem aktuellen Gallup Engagement Index 2024 zufolge fühlen sich in Deutschland nur noch 9 Prozent der Mitarbeitenden emotional hoch an ihren Arbeitgeber gebunden. 78 Prozent machen Dienst nach Vorschrift, der höchste Wert seit Beginn der Messung. Gallup führt diese Entwicklung vor allem auf fehlende Wertschätzung, mangelnde Entwicklungsperspektiven und unklare Führung zurück, Faktoren, die sich im digitalen Wandel deutlicher zeigen als je zuvor.

KI kann Routinen reduzieren und Freiräume schaffen. Oder sie kann Arbeit verdichten, Kontrollmöglichkeiten ausbauen und die ohnehin fragile Bindung der Mitarbeitenden weiter schwächen.

Gleichzeitig sind diese Zahlen kein Anlass zu trübem Kulturpessimismus. Viele Menschen sagen von sich, mit ihrer Arbeit zufrieden zu sein; viele verbinden ihren Job mit persönlicher Entwicklung und engen Beziehungen zu Kolleginnen und Kollegen. Der Befund ist damit komplexer. Beschäftigte sind bereit, sich einzubringen, aber sie erwarten Klarheit, Stärkenorientierung und Respekt.

Diese Erwartungshaltung trifft auf die zweite Digitalisierungswelle. Sie entscheidet maßgeblich darüber, ob Mitarbeitende Künstliche Intelligenz als Entlastung oder als Zumutung erfahren.

KI zwischen Entlastung und Überlast

Die OECD hat erhoben, wie Beschäftigte weltweit den Einsatz von KI erleben. Viele berichten, dass sie produktiver arbeiten und ihren Job als interessanter empfinden. Gleichzeitig steigt der Druck. Arbeit wird dichter, der Austausch im Team nimmt eher ab, und die Sorge vor Kontrolle wächst. Technologie schafft damit nicht automatisch Fortschritt. Sie eröffnet Möglichkeiten, bringt aber ebenso Zielkonflikte mit sich, die aktiv gestaltet sein wollen.

Für Führungskräfte markiert diese Entwicklung einen echten Wendepunkt. Wird KI vor allem genutzt, um Personal zu reduzieren, Berichte schneller zu erzeugen oder Taktraten weiter anzuziehen, entsteht lediglich eine beschleunigte Neuauflage der ersten Digitalisierungsphase, mit dem absehbaren Risiko von Erschöpfung und Vertrauensverlust. Setzen Unternehmen KI dagegen so ein, dass sie bei Routinen entlastet, Entscheidungen fundierter macht und Mitarbeitenden Zeit für Aufgaben lässt, die Können und Urteilskraft brauchen, entsteht ein völlig anderes Bild. Dann kann Digitalisierung Arbeit aufwerten.

Damit entsteht eine strategische Wahl: KI kann Routinen reduzieren und Freiräume schaffen. Oder sie kann Arbeit verdichten, Kontrollmöglichkeiten ausbauen und die ohnehin fragile Bindung der Mitarbeitenden weiter schwächen. Was passiert, hängt weniger an der Technologie selbst als daran, wie sie gestaltet wird.

Die eigentliche Aufgabe heißt Job-Redesign

Hier setzt die vielleicht wichtigste Erkenntnis dieser Welle an. Digitalisierung ist weniger ein Technologieprojekt als ein Kompetenzprojekt. McKinsey und andere Institute skizzieren für Europa Szenarien, in denen generative KI weite Teile der repetitiven Wissensarbeit übernimmt. Damit wächst der Druck auf jene Tätigkeiten, die sich nicht automatisieren lassen: Urteilsvermögen, Empathie, Analyse.

Entscheidend ist damit nicht der Automatisierungsgrad, sondern das Konzept der augmentierten Arbeit. Es reicht nicht, Prozesse zu optimieren, stattdessen müssen Rollenprofile neu geschnitten werden. Wo genau entlastet KI? Welche höherwertigen Aufgaben entstehen dadurch? Welche Kompetenzen brauchen Teams künftig, und wie gelangen die Menschen dorthin, ohne dass die Transformation wie eine ständige Drohkulisse wirkt?

Hier liegt der blinde Fleck vieler Digitalstrategien. Sie beschreiben, welche Systeme eingeführt werden, aber nicht, wie sich die Arbeitstage real verändern. Ein zukunftsfähiges Workforce-Playbook müsste genau diese Mikroebene sichtbar machen: Welche Aufgaben fallen weg, welche kommen hinzu, wie verschieben sich Verantwortlichkeiten? Technologien wie die Skills-Clouds moderner HR-Systeme können helfen, diese Veränderungen datenbasiert zu modellieren, aber die eigentliche Führungsaufgabe bleibt zutiefst menschlich.

Zu dieser Aufgabe gehört auch, dass jede technische Neuerung einen verlässlichen Rahmen braucht, damit sie Vertrauen schafft und im Alltag tragfähig wird.

Vertrauen ist die neue Compliance

Mit dem EU AI Act hat Europa den ersten umfassenden Rechtsrahmen für Künstliche Intelligenz geschaffen. Er legt fest, welche Anwendungen tabu sind und welche strengen Auflagen unterliegen, etwa KI-gestützte Bewerbungs- oder Bewertungssysteme. Unternehmen müssen zudem sicherstellen, dass Beschäftigte, die mit solchen Systemen arbeiten, ausreichend geschult sind.

Trotzdem zeigen Studien, dass nur wenige Organisationen über klare interne Leitlinien verfügen. Viele setzen KI bereits ein, ohne dass Regeln, Zuständigkeiten oder Kontrollmechanismen wirklich geklärt sind. Es entsteht eine Lücke zwischen technischem Fortschritt und organisatorischer Steuerung, die Risiken unnötig erhöht.

Wenn KI Routinen übernimmt, rücken Coaching, gute Entscheidungen und der Umgang mit Unsicherheit stärker in den Mittelpunkt.

In Unternehmen wächst damit eine doppelte Verantwortung. Einerseits geht es um klassische Compliance. Welche KI-Systeme sind im Einsatz, wie werden sie eingestuft, wer überwacht sie, welche Dokumentation liegt vor? Andererseits geht es um etwas, das sich nicht per Richtlinie verordnen lässt. Beschäftigte müssen verstehen können, wofür ihre Daten genutzt werden, welche Entscheidungen ein System vorbereitet und an welcher Stelle Menschen eingreifen. Bleibt diese Transparenz aus, wandern KI-Tools rasch in informelle Nebenwege, und die Organisation verliert den Überblick über ihr eigenes Risikoprofil.

Mitarbeitende beobachten genau, welchen Rahmen KI im Unternehmen erhält, rechtlich, kulturell und bei der täglichen Arbeit. Systeme, die Routineaufgaben wie Sortieren, Recherchieren oder Dokumentieren übernehmen, können spürbar entlasten. Technik, die jede Aktivität misst, die Taktung erhöht und Reaktionsbereitschaft zur Norm macht, verstärkt dagegen genau jene Belastungen, die sie eigentlich reduzieren soll.

Was die zweite Welle von der Unternehmensführung verlangt

Wenn Digitalisierung mehr sein soll als ein technisches Update, stellt sich eine grundlegend andere Frage. Welche Veränderungen bringt sie im Arbeitsalltag tatsächlich mit sich? Welche Aufgaben treten in den Hintergrund, welche werden wichtiger und welche Fähigkeiten braucht eine Organisation, um diesen Wandel sinnvoll zu gestalten?

Erstens braucht es eine klare Zielsetzung. Eine Digitalstrategie trägt nur dann, wenn nachvollziehbar ist, welchen Beitrag neue Technologien für Auftrag und Orientierung des Unternehmens leisten. Mitarbeitende müssen verstehen können, warum etwas eingeführt wird.

Zweitens geht es um die konkrete Gestaltung der Arbeit. Rollen und Zuständigkeiten müssen regelmäßig überprüft und neu zugeschnitten werden. Automatisierung allein reicht nicht, entscheidend ist, wie sich die Tätigkeit selbst weiterentwickelt.

Drittens verändert sich Führung. Wenn KI Routinen übernimmt, rücken Coaching, gute Entscheidungen und der Umgang mit Unsicherheit stärker in den Mittelpunkt. Führungskräfte müssen im Blick behalten, wie sich Belastungen verschieben und wo Teams Freiräume gewinnen können.

Vom Effizienzprogramm zur Sinninfrastruktur

Die zweite Welle der Digitalisierung zwingt Unternehmen dazu, ihre Grundannahmen zu prüfen. Die erste Welle hat Prozesse beschleunigt, aber nicht immer verbessert. Jetzt entsteht die Chance, Technologie so einzusetzen, dass sie Sinn stiftet – für Mitarbeitende, für Kundinnen und Kunden und für die Gesellschaft.

Die eigentliche Chance dieser zweiten Welle liegt darin, Technologie nicht gegen Menschen zu richten, sondern mit ihnen. Unternehmen, die das ernst nehmen, stärken nicht nur ihre Produktivität, sondern schaffen Arbeitswelten, die Orientierung geben und Wirkung ermöglichen. Genau das wird in den kommenden Jahren zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil.

 

 

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